Das Vaterunser und seine aramäischen Wurzeln
Vor zweitausend Jahren hat Jesus seinen Jüngern das Vaterunser gelehrt. Heute ist das Gebet ein zentrales Element des Christentums. Ursprünglich sprach Jesus das Gebet auf Aramäisch. Aramäisch war die Sprache, die Jesus und seine Zeitgenoss*innen täglich sprachen. Dieses uns so vertraute Gebet bekommt eine wunderschöne und viel tiefere Bedeutung, wenn wir es in der Sprache betrachten, in der es ursprünglich gesprochen wurde. Denn die aramäische Sprache unterscheidet sich stark vom Griechischen, der Sprache, in der die Evangelien später niedergeschrieben wurden und aramäische Worte haben oft mehrere Bedeutungen, die unterschiedlich interpretiert werden können.
So kennen wir den Beginn des Vaterunsers mit den Worten "Vater unser im Himmel". Diese Anrede spiegelt unseren kulturellen Kontext wider, denn im griechischen und deutschen Text wird die männliche Vorstellung von Gott als „Vater“ betont. Im Aramäischen kann die Anrede mit dem Wort „Abba“ sowohl „Vater“ als auch „Quelle“ oder „Ursprung“ bedeuten. Diese Mehrdeutigkeit erlaubt es, die erste Zeile des Gebets so zu interpretieren, dass sie die beiden elterlichen Aspekte Gottes - den väterlichen und den mütterlichen - umfasst. Man könnte das Gebet aber auch mit "Quelle des Lebens" beginnen.
Diese feinen Unterschiede laden uns ein, über die Vielfalt unserer christlichen Tradition nachzudenken und die Worte Jesu in einem breiteren, inklusiveren Kontext zu verstehen.
Neil Douglas-Klotz über das aramäische Vaterunser
Der Religionswissenschaftler Neil Douglas-Klotz hat in seinen Büchern verschiedene Interpretationen des aramäischen Vaterunsers veröffentlicht. Diese Vielfalt an Interpretationen zeigt, wie tief und vielschichtig die Worte Jesu sind.
(Wenn du das Gebet auf dem Handy liest, drehe am besten dein Bildschirm quer. Dann lässt sich der Text einfacher lesen.)
Die gängige Übersetzung des Vaterunsers |
Das Jesusgebet nach Neil Douglas-Klotz |
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. |
Vater-Mutter des Kosmos, bündele dein Licht in uns – mache es nützlich: erschaffe dein Reich der Einheit jetzt. Dein eigenes Verlangen wirkt dann in unserem –wie in allem Licht, so in allen Formen. Gewähre uns täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen. Löse die Stränge der Fehler, die uns binden, wie wir loslassen, was uns bindet an die Schuld anderer. Lass oberflächliche Dinge uns nicht irreführen, sondern befreie uns von dem, was uns zurückhält. Aus dir kommt der allwirksame Wille, die lebendige Kraft zu handeln, das Lied, das alles verschönert und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert. Amen. |
Ich persönlich habe das "Vaterunser" viele Male gefühllos gebetet. Die Übersetzung von Neil Douglas-Klotz inspiriert mich, neu über das Gebet nachzudenken. Sie hilft mir auch, mit Aussagen umzugehen, die mich herausfordern, wie z.B. "Führe uns nicht in Versuchung".
Natürlich sind solche Interpretationen und Übersetzungen nicht als allgemeingültige Wahrheit zu verstehen. Für mich sind sie vielmehr Denkanstöße, um die biblische Tradition besser zu verstehen. Ich finde es sehr bereichernd, offen über die vielfältigen Bedeutungen unseres Glaubens und über verschiedene Anreden Gottes nachzudenken, ohne die traditionellen Ansichten zu ignorieren.
Alles Liebe, Mira
Kommentare
Stefan Streber:
😌🙏ich bete das Vater unser immer in aramäisch seit ein paar Jahren aber ich kenne nur diese Version aber auch noch eine andere : Mutter Vater alles geschaffenen dein göttliches eins sein schaffe liebe und Licht ewig und jetzt lass deinen Willen durch meinen geschehen wie im Geist so in allem geformten Gib uns Nahrung täglich wie dem Körper so der Seele löse die Bande meiner Fehler wie ich sie anderen löse befreie mich von unreife und allem was mich fest hält und nicht loslassen lässt denn dein ist die Kraft und der Gesang des Universums jetzt und hier und n Ewigkeit Amen 😌🙏es verwirrt mich das ich nun noch eine andere Version hier entdecke 😌
Doro:
Ich finde persönlich die Anrede „Vater unser“ oder „unser Vater“ schöner, da sie persönlich ist und Ausdruck von Beziehung. Jesus selbst stellt uns immer wieder Gott als seinen Vater, der auch unser Vater sein will, vor. Es geht ihm um Beziehung. Daher finde ich es im Kontext von Jesu Lehre logisch diese Anrede als „unser Vater“ zu übersetzen. „Quelle des Lebens“ ist Gott auf jeden Fall auch. Aber diese Anrede entspricht für mich eher der unpersönlichen, spirituellen Vorstellung von einer Göttlichen Energie, die gerade so modern ist. Da muss ich nicht in Beziehung gehen, kann mir diese Quelle vorstellen wie ich es eben möchte und bin auch niemandem verantwortlich.
Aber wir glauben als Christen doch an einen persönlichen Gott, der sich in der Person Jesus offenbart und zu jedem eine persönliche Beziehung sucht, der aber auch mitreden möchte in unserem Leben, weil er unser Bestes, sein Friedensreich und seine Ehre sucht.
Ich finde die Vorstellung ziemlich überwältigend, dass ich zu dem Schöpfer des Universums „Vater“ sagen darf. Wie verrückt, dass ich ihm so nahe kommen darf und er mich in seine liebevollen Arme nimmt (siehe Gleichnis des Verlorenen Sohns).
anna:
Liebe Mira, was für ein schöner Text! So werde ich das Vaterunser in nächster Zeit öfter beten, ich glaube auch, dass mich das ganz neu berühren wird :)
Laura :
Ein sehr inspirierender Artikel, der zum Nachdenken anregt!
Die aramäische Interpretation kannte ich noch nicht, und auch so finde ich, dass das Vater Unser nie langweilig wird, sondern mich immer wieder neu ins Nachdenken bringt.
Es liegt so viel Kraft darin und in anderen Bibelstellen, da lohnt es sich langsam zu lesen und bewusst darüber nachzudenken.
Danke fürs Teilen, Mira :)
Laila:
voll inspirierend! Das lässt einen nochmal neu über das Gebet nachdenken.